Skip to main content

REVISITING BELGRADE

DIGITALER ESSAY
von Lana Bastašić

Ich konnte in Belgrad nicht schreiben. Ich habe eine einmonatige Schriftstellerresidenz und ein monatliches Stipendium bekommen, und ich habe nichts geschrieben. Ich hatte mich für Sarajevo beworben, aber als Bosnierin war das für mich nicht möglich. Man sagte mir, ich müsste in ein fremdes Land gehen und bot mir Serbien an, was ungefähr so fremd für mich war wie mein eigenes Schlafzimmer. Ich habe meinen Master in Belgrad gemacht und zehn Monate dort gelebt. Meine Eltern sind Serben, genau wie meine Geschwister. Meine Schwester hat zehn Jahre lang in Belgrad gelebt, sogar ihr Akzent hat sich im Lauf der Jahre verändert. Dieses Jahr habe ich endlich die serbische Staatsbürgerschaft bekommen, was die ganze Sache mit dem fremden Land noch lächerlicher macht. Aber zu dem Zeitpunkt, als ich mich bewarb, war ich in Belgrad technisch gesehen eine Ausländerin. Also bekam ich Belgrad. Die „weiße Stadt“ mit kranken Lungen. Ich musste mein geliebtes Sarajevo abschreiben, zumindest vorerst.

Was habe ich während einer Schriftstellerresidenz gemacht? Ich konnte nicht schreiben und ich konnte nicht schlafen. Meine Schlaflosigkeit war mit voller Wucht zurück. Wenn ich schlief, hatte ich entweder entsetzliche Alpträume oder Schlafparalyse. Ich träumte von Bären, die mich durch den Wald verfolgten, von Gebäuden, die über mir einstürzten, vom Ertrinken. Meine Augen wachten dabei vor meinem Körper auf und ich hatte Halluzinationen einer dunklen Figur im Zimmer, die auf mich zukam. Ich wachte schreiend auf.

Mein ganzes Leben lang litt ich an Schlafstörungen. Als ich klein war, schlafwandelte ich manchmal und wachte mitten in der Nacht komplett für die Schule angezogen auf dem Fußboden auf. Sogar im Schlaf wollte ich unbedingt fortgehen. Nur in den letzten Jahren in Barcelona, als ich die Einladung für die Residenz in Belgrad erhielt, hatten sich meine Schlafgewohnheiten erheblich verbessert und ich sah den dunklen Mann in meinem Zimmer nicht mehr. Es verblüffte mich, dass er jetzt plötzlich hier in dieser kleinen Wohnung in Belgrad wieder auftauchte. Irgendwie hatte die Stadt meine Schlafprobleme wieder ausgelöst und ich hatte Angst vor dem Zubettgehen, machte mir Sorgen, dass die Schrecken der Nacht zurückkehren würden

Gegen fünf, sechs Uhr früh gab ich das Schlafen ganz auf und verließ die Wohnung.

Die Stadt schlief um diese Zeit noch. Sie wirkte leer, verlassen, wie nach einer Apokalypse. Ich mochte sie am liebsten ohne Menschen, wenn sich ihre müde brutalistische Schönheit voll und ganz entfaltete. Auch die Narben waren da. All die Bomben, all die Mythen. Es war so, als ob mir die Stadt sagte: Schau, wie viel Wahnsinn ich durchgemacht habe, und ich stehe immer noch. Es gab Momente, in denen ich mich ihr ebenbürtig fühlte, weil wir beide unter den Täuschungen anderer gelitten haben. Dann wieder sah ich die Stadt als eine Sprache, die ich nie beherrschen würde, als wären diese Straßen und Straßenbahnen und Busse und Gehsteige eine unnötig schwierige Grammatik.

Trotzdem ging ich gern spazieren und las die Graffiti. Manchmal erzählten sie von gebrochenen Herzen und verlorenen Hoffnungen. Dann wieder verehrten sie Kriegsverbrecher. Es war, als ob das Gesicht der Stadt die Gedanken und Träume und Ängste ihrer Bewohner widerspiegelte. Ihr Bestes und Schlimmstes. Die Aufschriften sagten: Hier gibt es großen Schmerz. Sie sagten auch: Aber Leute sind immer noch Leute. Sie werden lieben und hassen und wollen und nicht haben. Sie werden die Mauern vollschreiben. Ein Graffiti lautete Ich weine im Regen, damit man meine Tränen nicht sieht. Ein anderes: Ratko Mladić – unser Held. Ein anderes lautete: Wir waren glücklich, trotz allem. Ein anderes lautete: Kosovo ist Serbien. Ein anderes lautete: Denkst du je an mich, wenn du das liest? Ein anderes lautete: Eine neue Föderation sozialistischer Republiken des Balkans! Ein anderes lautete: No woman no cry. Es gab ein Porträt von Bob Dylan. Es gab ein Porträt von Radovan Karadžić. Und so weiter.

Belgrads schwieriger Schmerz fand seinen Weg in mein Inneres. Ich las ein berühmtes Gedicht über die Stadt, in dem der Autor sie mit einem Schwan verglich. Ich suchte nach den schönen Flügeln, die diese Verse beschrieben, aber ich sah lediglich einen müden, alten Vogel, der seine Jungen davonjagte. Ich stieg in die falschen Busse ein. Ich gab zu viel Geld für Essen aus. Ich wich überall den geparkten Autos aus und beklagte Belgrads gestohlene Gehsteige. Ich hustete – in den Supermärkten, in den Restaurants, in den Parks, in den Bibliotheken. Ich hustete und hustete und hustete, und Belgrad lachte über meine unvorbereiteten Mittelmeerlungen. Wohin ich ging, überall war Rauch: von Autos, von Leuten, von Gebäuden, alle waren sie begierig, ihn auszustoßen, ihn in die Straßen rauszublasen. Manchmal dachte ich, sie brauchten all den Rauch, um die Narben zu verdecken. Aber hauptsächlich hustete ich, und der Rauch drang in mich ein, zusammen mit dem Schmerz.

An diesen stillen Morgen durchquerte ich den Kalemegdan bis zur Mündung der beiden Flüsse. Die Save raste auf die Donau zu, mit all den schmerzvollen Geschichten, die sie im Lauf der Jahrzehnte gesammelt hat – Geschichten aus meinem eigenen Land, erzählt von kleineren Flüssen: Drina und Una und Bosna und Vrbas. Geschichten, zu dunkel, um sie zu wiederholen. Die Save hatte sie alle hinuntergeschluckt und schob sie unermüdlich der großen Donau zu, die Einzige, die sie aufnehmen konnte, weil sie schon alles gesehen hatte. Ich dachte darüber nach, wie die beiden eins werden und zugleich voneinander getrennt bleiben konnten, wie ihre Wassermoleküle sich vermischten und vorwärts drängten und ihre ganze Identität verloren, bevor sie das ferne Schwarze Meer erreichten. Ich dachte über die Worte nach, die wir auf Land und Wasser legen, und wie das Land davon schwer wird, durch Grenzen abgeriegelt und mit Blut durchtränkt, während das Wasser Zeugnis ablegt und sich weiterbewegt – es fließt davon und wird zu etwas völlig anderem.


Ich sagte zu einer Freundin aus Belgrad: Ich weiß nicht, wie du das machst. Ich könnte hier nie leben. Es ist zu deprimierend. Und sie sagte, Belgrad sei eine dieser Städte, die zum Vorschein bringen, was in uns ist. Es kaut dich durch und spuckt dich wieder aus. Aber du wirst am Ende du selbst sein, ob du willst oder nicht. Da dachte ich, dass der Schmerz, dem ich begegnete, vielleicht nicht Belgrads Schmerz war, sondern mein eigener. Vielleicht war diese Stadt ein riesiger verdreckter Spiegel. Wobei das vielleicht auch alle Städte sind. Und dennoch, Belgrad verstärkt alles: das Gute und das Schlechte. Es ist wie diese Orte auf der Erde, wo die Schwerkraft etwas stärker ist. Du fühlst dich ein bisschen schwerer, obwohl du dir dessen nicht völlig bewusst bist. Vielleicht ist auch das etwas, was Belgrad tut: es lässt dich dein Gewicht spüren. Es lässt dich jede Wunde spüren, sei sie groß oder klein, neu oder vergessen, und verpetzt dich für deine Heuchelei, weil du sie verstecken wolltest. Es findet dich früh am Morgen allein an der Flussmündung und sagt: Hallo Arschloch, ich hab auf dich gewartet. Und still und peinlich erkennt ihr euch wieder, wie zwei Süchtige bei einem anonymen Treffen. Dachtest du, du wärst besser als ich?

Ich hielt es nicht lange in der Wohnung aus, denn das erinnerte mich nur an die Tatsache, dass ich nicht schrieb. Ich kochte etwas Schnelles, beantwortete meine E-Mails, schrieb Nachrichten an meine Freunde im Ausland und ging dann wieder hinaus zum Spazieren. Ich ging gerne in die Nationalbibliothek, um zu lesen oder so zu tun als ob, umgeben von ängstlichen Studierenden und ihren schweren Lehrbüchern. Ich mochte die Stille von jungen lernenden Menschen. Ich mochte es, wie wir gemeinsam an der Stille teilhatten und wie sich gleichzeitig in unseren Köpfen verschiedene Welten entfalteten. Eine oder einer dieser Studierenden wird einmal Ärztin oder Arzt sein, dachte ich, und was er oder sie heute lernt, genau jetzt, in dieser Minute, könnte das Leben von jemand anderem retten. Eine oder einer davon wird einmal Anwältin oder Anwalt sein, und was er oder sie heute lernt, genau jetzt, in dieser Minute, wird einem schuldigen Menschen helfen, freigesprochen zu werden. Eine oder einer davon wird keinen Gebrauch haben für das, was er oder sie heute lernt und wird vielleicht einmal Schriftstellerin oder Schriftsteller. Viele werden Durchschnitt sein. Viele werden denken, sie wären es nicht. Manche werden scheitern. Manche werden nach Deutschland auswandern. Manche werden Krebs bekommen oder Diabetes oder einfach im Schlaf sterben. Jedes Mal, wenn ich das Bibliotheksgebäude verließ, fühlte es sich an, als ob ich eine andere Zeitzone betreten hätte, die anders vom Rest der Welt war. Manchmal fühlte es sich an, als ob äußerlich nur ein paar Minuten vergangen wären, während ich von diesen Studierenden umgeben stundenlang gelesen hatte.

Touristen versammelten sich vor der Bibliothek, um Fotos vom Dom des Heiligen Sava zu schießen, einem orthodoxen Tempel, der entfernt an die Hagia Sophia erinnert. Der Tempel ragt hoch über der Bibliothek auf, und die Leute bekreuzigen sich, wenn sie daran vorübergehen oder -fahren. Und während also manche im kleineren Gebäude still Fakten lernten, beteten andere in der Kirche zu einer höheren Gottheit. Ich dachte, wie traurig es doch war, dass niemand einen Segen aussprach, wenn er an der Bibliothek vorüberging, und wie ein einziges Buch wichtiger werden und einen größeren Tempel verdienen konnte als hunderttausende andere. In dieser stillen Gegensätzlichkeit des Karađorđe-Parks dachte ich daran, dass alle Schriftsteller irgendwie mit diesem einen Buch, diesem einzigen Mythos konkurrierten, dabei ständig verloren, scheiterten, und wieder von vorne begannen. Und da war ich nun – auf einer Schriftstellerresidenz – und versuchte es nicht einmal.

An manchen Abenden besuchte ich das Jugoslawische Filmarchiv – die Kinoteka. Mein letztes Jahr in Barcelona hatte ich in einer Wohngemeinschaft im gefährlichen Raval-Viertel verbracht, wo man Drogendealer und Prostituierte als Nachbarn hatte, und Migrantenfamilien sich abrackerten, um sich noch einen Monat durchzuschlagen. Ein Grund, weshalb es sich dennoch dort lohnte, war die Filmoteca de Catalunya, die nur drei Minuten von meiner Wohnung entfernt war, wo ich meinen vier unausstehlichen Mitbewohnern entfliehen und drei bis vier Stunden an die Leinwand gefesselt verbringen konnte. Denselben Trost fand ich in der Belgrader Kinoteka, ich schaute mir alles an, was gespielt wurde, Altes oder Neues, Gutes oder Schlechtes, und lächelte den anderen Einzelgängern im Saal verschwörerisch zu. Genau wie in der Bibliothek fühlte ich mich im Kino zu Hause, nur dieses Mal hatten wir alle an derselben Erfahrung teil, ganz egal wie unterschiedlich wir sie auch in uns selbst verarbeiteten. Bewegte Bilder waren immer eine Wohltat für meinen wortgeplagten Geist, sie brachten mich weg von der geschriebenen Sprache hin zu einer visuellen, und regten mich gleichzeitig dazu an, weiterzuschreiben. Kein Buch hat in mir den Willen zu schreiben so sehr ausgelöst wie manche Filme. Und in dieser respektvollen Interaktion zweier sehr unterschiedlicher Künste fand ich die kleinen Wahrheiten, hinter denen ich in meinem eigenen Schreiben her war.

Der generelle Mangel an Grünflächen im Stadtzentrum deprimierte sowohl mich als auch meine Lungen, also streifte ich auf der Suche nach Parks und anderen grünen Oasen durch die Straßen. Schon bald wurde der Hyde Park mein Favorit, obwohl es größere und schönere Wälder in Belgrad gibt. Ich mochte seine dreieckige Form und dass ich plötzlich im Wald sein und den Verkehr rund um den Park ganz ausblenden konnte, als wäre ich weit weggegangen. Ich mochte die gelben Lichter, die am späten Nachmittag herauskamen und dem Park leise und unauffällig einen goldenen Farbton überzogen. Die Erde roch nach Staub und Blättern nach dem Regen, und winziges Leben krabbelte unter Farnen und Steinen hervor, um in der wohltuenden Sonne zu trocknen. Einmal sah ich ein Plakat von einem vermissten Hund, einem süßen kleinen Jack Russel Terrier mit großen braunen Augen, und ich war mir sicher, ich würde ihn in den versteckten Winkeln des Hyde Park finden. Ich wollte diejenige sein, die ihn zurück zu seiner Familie brachte, ich wollte etwas Gutes tun, wie um die Tatsache, dass ich nicht schrieb, wiedergutzumachen. Ich rief und rief, dabei kann ich mich jetzt nicht einmal mehr an den Namen erinnern. Nach einer Weile gab ich die Suche auf, und als ich einige Tage später noch einmal am Plakat vorbeiging, fiel mir auf, dass der Besitzer es vor über einem Jahr angebracht hatte. Ich hatte nach einem Geist gerufen. Meine Mission, eine gute und selbstlose Tat zu begehen, war ebenso verloren.

Meine sturen Beine trugen mich nach Voždovac, Vračar, Zvezdara, Dorćol und andere Teile der Stadt. Immer öfter brachten sie mich zum Neuen Friedhof, der hundert Jahre vor meiner Geburt gebaut worden war, und ich spazierte fröhlich unter seinem Hauptbogen hindurch ins Tal der Toten. Die Militärgräber interessierten mich nicht, Schriftsteller waren mir immer schon lieber gewesen als Generäle. Ich ging zum Grab des Dichters Branko Miljković, dessen Himmel, zwischen den Fingern ausgebreitet ich einst gestohlen hatte, und dachte an die einsame Zeit in dem Jahr, nachdem ich meinen Abschluss gemacht hatte, als ich ihm alle zwei Wochen eine rote Rose brachte. Dieses Mal war ich älter, realistischer, und vielleicht auch verbitterter. Dieses Mal ging ich geradewegs zu Danilo Kiš. Ich setzte mich neben ihn und erzählte ihm, dass ich nicht schrieb. Ich erzählte ihm, dass es zu viel Schmerz und Leere gab und diese Stadt sie in meinem Kopf noch aufblähte. Ich erzählte ihm, dass ich kein hingebungsvolles Genie wie er war, sondern nur eine einfache sterbliche Frau mit Schlafstörungen und einer problematischen Schilddrüse. Danilo sagte nichts, weil er tot war. Es war immer schwerer den Friedhof zu verlassen als ihn zu betreten, und das erinnerte mich an das, was die Sibylle einmal zu Aeneas gesagt hatte.

Doch um sich in Belgrad dem Tod nahe zu fühlen, war es nicht nötig, auf einen Friedhof zu gehen. Irgendwie spürte ich seine Präsenz überall: er zerbröckelte die Gebäude, erfror die Obdachlosen, saugte den Sauerstoff ab, erdrosselte die Liebe. Er war in dem Paar, das im Supermarkt stritt und sich Fick dichs wie Hallos zurief. Er war in dem kleinen Jungen, den ich einmal vom Fenster aus sah – sein Vater brüllte ihn an, wie dumm er sei, ein kompletter Vollidiot, während der Junge nur seine weißen Turnschuhe anstarrte. Er war in den müden und nervösen Autofahrern, die einander an der unmöglichen Slavija-Kreuzung anschrien. Er war in den nassen Leichen der alten Bäume. Vielleicht war es das, was Belgrad zu bieten hatte – es konnte einem das Extreme, den Exzess, die zarte Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Leben und Überleben zeigen. In seinem Mangel an sauberer Luft machte es einen irgendwie begieriger zu atmen. Und vielleicht war es diese Omnipräsenz des Todes, die mich eifriger weitergehen, weiteratmen, weiterlesen oder Filme schauen ließ, um meinen dünnen Faden durch das Labyrinth zu finden.

Während meiner letzten paar Tage in Belgrad stieß ich auf einen Roman von Georgi Gospodinov mit dem Titel Physik der Schwermut, ins Serbische übersetzt und veröffentlicht von Geopoetika. Ich war ganz fasziniert von dem Schreibstil und der Geschichte und las das Buch sofort noch einmal, nachdem ich es fertiggelesen hatte. Der neu interpretierte Minotaurus-Mythos als Geschichte über ein verlassenes, in einem riesigen Labyrinth gefangenes, hilfloses Kind, würde die Inspiration für meinen nächsten Kurzgeschichtenband sein. Ich schrieb einen Satz aus Gospodinovs Roman in ein großes graues Notizbuch ab, fuhr nach Sarajevo und begann endlich, nach langer Zeit, zu schreiben.

Dennoch war der Schmerz, der das Buch formte (die Milchzähne erschienen im Jahr 2020), nicht Sarajevos Schmerz. Es war nicht einmal Gospodinovs Schmerz. Es war Belgrads Schmerz. Weniger als ein Jahr, nachdem meine Residenz zu Ende war, zog ich wieder hin. Ein Freund fuhr mich und all meine Sachen den langen Weg aus dem sonnigen Barcelona in die versengten Zementlungen des Autokomanda-Viertels. Ich packte meine Koffer aus, schlichtete meine Bücher in neue Regale, kaufte eine Dauerkarte für den öffentlichen Verkehr, stellte Anträge für die Staatsbürgerschaft und einen Pass, und wurde so sehr bald zu einer Belgraderin. (Mein nordbosnischer Akzent hielt sich stolz.)

Diesmal war es anders. Ich lernte neue Leute kennen. Ich ging joggen. Ich entwickelte meine eigenen Belgrader Rituale. Der Schmerz war immer noch da, aber irgendwie gezähmt. Nach ein paar Monaten ging ich noch einmal zu dem Ort, wo die beiden Flüsse ineinanderfließen. Die Stadt wachte gerade erst auf. Es schien, als würde sie sagen: Du schon wieder? Also lächelte ich und dachte: Jetzt bin ich stärker, zeig mir, was du kannst.


Und sie tat es.

Weiße Stadt

1

nachts
fällst du ab wie eine kruste
und ich bin wieder dünn und brenne
ich habe dir nichts zu sagen
nichts neues und nichts gutes
ein gedicht über dich ist ein stein in der nierenstille
ich schreibe keine gedichte und kenne dich nicht
weiß nur, dass du fast wie eine lüge bist
oder eine wahrheit, die man verschweigt
über dein weiß
weiß ist das wort, das übrigbleibt
es frisst alle anderen wörter auf
schweigt und kaut, zahnloses weiß

2

nachts
kratze ich da, wo es weiß ist
entkomme deinen dunklen adern
und verschütte mich über den asphalt
hier sind die lichter dumpf
und grillgeruch im nebel
die nacht dreht deine schwere leiche über dem feuer
hier gibt es kein feuer und ständig huste ich
ich huste dich aus
zerbröckle deine brüchige monstrosität
was ich über dich sage?
dir ist es egal
großen städten ist es immer egal

3

und das weiß in mir
aber es hat mit dir nichts zu tun
du machst es nur dicker
du hustest mich aus
sag mir, hast du irgendwann
zwischen zwei kreisverkehren
auch nur einen sauberen satz gesehen?
etwas handfestes, wie eine straßenbahn
vielleicht schaue ich schlecht
dumpf, alles grollt, aber dumpf
in der stille des bluts
isoliert in dir wie ein bakterium
ich möchte hier nicht sterben

4

nachts schweigen auch die bettler
wechseln die straßenseite
am kiosk schweigen zigaretten, schokobananen
und eine kinderbibel
es schweigen deine lichter
man muss sich bewegen in dir
so vielleicht
den fluss erreichen, den einen oder den anderen
so tun, als wäre es das meer
so tun, als wäre es wichtig, welcher es ist
aber du bist nicht schuld
du hast das wasser nicht benannt
auch dich nicht, auch mich nicht

5

nachts
zähle ich in den hosentaschen tote auf
bewege mich stumpf, schwerfällig
sumpfig
regen verlangsamt den blutkreislauf
ein betrunkener mann sagt mir
fräulein, die straßenbahn fährt nicht, es fährt
nichts
sein gesicht ist feucht
und sein nichts groß wie die stadt
schluckt krähen und trolleybusse
ich schweige, schweige
und speichere den sumpf

6

und du liegst friedlich
wie ein querschnittsgelähmter bär
niedergestreckt
deine schienen winseln ein „bitte“
deine kinder verschonst du
weiß ist ihre nostalgie
du brauchst einen neuankömmling für die drecksarbeit
nachts erkennen wir uns
etwas in uns hat haltgemacht
und es ist schwer uns zu lieben
ich habe dich gehört
ziehe zwei paar handschuhe an
und zerre den bären zum fluss

7

ist das hier der november
oder hat dir die angst die straßen vereist?
die größte leere ist die der kinderspielplätze
vergeblich suche ich eine metapher für den himmel
aber der himmel ist nichts
nur schmerz in den halswirbeln
wenn ich die brille abnehme, bist du das hobby
eines faulen aquarellisten
und eine frau zerrt zwei kinder über den asphalt
nein, keine kinder
es sind säcke voll müll
und an der feuchten haut der eiche keine verlorene katze
sondern der wiedergefundene tod

8

ist das hier der november
oder bin ich nur in der leere
deines magens erfroren?
ich brauche grenzen
und du verbreitest dich wie dorfgeschwätz
verschwindest schneller als ich, im smog
dein gott hat aufgegeben
deine ampeln bluten
legen mein weiß offen
die weißen nasenflügel meiner generation
weiß zwischen buchstaben und rippen
ist das hier der november
oder haben wir uns nur wiedererkannt?

9

das weiß ist am morgen eine zielscheibe
und die stunde schlägt schäumend
die kommende weiße sekunde
es ist keine trauer, nur distanz
die längste taste auf der tastatur
der grund, warum postboten zu spät kommen
warum wir uns nicht berühren
deine haut versteckt sich unter plakaten
tausende pflaster über dem wundbrand
wo deine kinder das abc lernen
к о с о в о  ј е  с р б и ј а
hungrige kinder verhexen das weiß
suchen einander zwischen bröckelnden fassaden

10

heute stirbt der november
und wir haben den fluss erreicht
eine frau, von innen weiß, glänzend
auf ihrem rücken der nichtweiße bär
das wolltest du also – dass ich dich töte
während deine kinder schlafen?
das hier ist keine griechische tragödie
ich habe weder hände noch worte dafür
hör doch die katzen unter den brücken
schon erwachst du, wütend, enttäuscht
morgens am fluss sind wir eine einfache wahrheit:
wenn ich dich hineinwerfe
wer wirft dann mich?

Aus dem Bosnischen und Englischen von Rebekka Zeinzinger.

Lana Bastašić, 1986 in Zagreb geboren, hat bisher drei Erzählbände – Trajni pigmenti (2010), Vatrometi (2013) und Mliječni zubi (2020) –, einen Lyrikband und ein Kinderbuch veröffentlicht. Sie ist Mitbegründerin von 3+3 sisters, einem Projekt, das Autorinnen aus dem Balkan fördert. Mit ihrem 2021 auf Deutsch erschienenen Debütroman Fang den Hasen (2018) stand sie auf der Shortlist des NIN-Award, Serbiens renommiertesten Literaturpreis, und erhielt 2020 den Literaturpreis der Europäischen Union und 2021 den Preis Latisana per il Nord-est. Der Roman ist in 18 Sprachen übersetzt. Bastašić lebt in Belgrad.

lanabastasic.com

Fotos: © Lana Bastašić
Fotos von Lana Bastašić: © Radmila Vankoska

Projektleitung: Barbara Anderlič

Design: Beri